livMatS Biomimetic Shell
Forschungsgebäude Freiburg, 2023
Projekt Video von ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart
Bilder von Roland Halbe
Bilder von Conné van d’Grachten
Diagramme von ICD/ITKE/IntCDC Universität Stuttgart
Robotic Offsite Prefabrication Bilder von ICD/ITKE/IntCDC Universität Stuttgart
Cyber-Physical Onsite Assembly Bilder von ICD/ITKE/IntCDC Universität Stuttgart
Solar Gate Skylight Bilder von ICD/ITKE/IntCDC Universität Stuttgart
livMatS Biomimetic Shell
FIT Freiburger Zentrum für Interaktive Werkstoffe und Bioinspirierte Technologien, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2023
Die livMatS Biomimetic Shell am Freiburger Zentrum für interaktive Werkstoffe und bioinspirierte Technologien ist ein zukunftsweisender Forschungsbau. Der großzügige und fließend in den umliegenden Campus übergehende Raum dient als architektonischer Inkubator für das Entwickeln innovativer, disziplinübergreifender Forschungsideen. Zugleich stellt das Bauwerk selbst ein Forschungsprojekt der beiden Exzellenzcluster Integrative Computational Design and Construction for Architecture (IntCDC) der Universität Stuttgart und Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS) der Universität Freiburg dar, das einen integrativen Ansatz des Planens und Bauens für eine zukunftsfähige Architektur untersucht.
Das Gebäude führt verschieden Forschungsstränge der Exzellenzcluster zur baulichen Synthese. Es handelt sich um eine auf biologischen Konstruktionsprinzipien basierende Holzleichtbauweise, die den ökologischen Fußabdruck über den gesamten Lebenszyklus im Vergleich zu einer herkömmlichen Holzkonstruktion um ca. 50% reduziert. Diese ausdifferenzierte und somit besonders ressourcenschonende, vollständig rückbau- und wiederverwendbare Holzsegmentschalenkonstruktion wird durch die integrative Entwicklung computerbasierter Planungsmethoden, robotischer Vorfertigungs- und automatisierter Bauprozesse, sowie neuer Formen der Mensch-Maschine Interaktion im Holzbau ermöglicht. In die Holzschale eingelassen ist das großflächige Oberlicht „Solar Gate“, das durch eine biomimetische, betriebsenergiefreie, 4D-gedruckte Verschattungsstruktur zur Regulierung des Innenraumklimas beiträgt. Zusammen mit einer aktivierten Bodenplatte aus Recycling-Beton ermöglicht dies eine ganzjährig komfortable Nutzung mit minimalster Haustechnik. So entstehen ein ausdrucksstarker, flexibel nutzbarer Raum und eine Architektur, die alternative Wege für ein zukunftsfähiges Bauen aufzeigt und auch als Plattform für weiterführende Forschung dienen wird.
Zukunftsweisender Holzbau als Raum für innovative Ideen
Die livMatS Biomimetic Shell bildet eine Erweiterung des Freiburger Zentrum für interaktive Werkstoffe und bioinspirierte Technologien der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und bietet Raum für das Entwickeln disziplinübergreifender Forschungsideen. Als Ort des freien Denkens ist der Solitär unabhängig auf dem Campus angeordnet und bildet mit einer großzügig öffenbaren Fassade einen fließenden Übergang zur umgebenden Landschaft.
Der Entwurf der Gebäudehülle basiert auf morphologischen Prinzipien des Plattenskeletts von Seeigeln, die am Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baukonstruktion (ICD) und dem Institut für Tragkonstruktion und konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart seit mehr als zehn Jahren erforscht werden. Für dieses Projekt wurde die Segmentschalenbauweise als hochdämmende Struktur für eine ganzjährige und dauerhafte Nutzung weiterentwickelt. Die unverwechselbare Form der Schale ergibt sich aus der gezielten Verzweigung zweier Teilschalen von unterschiedlicher Form und Größe. So entsteht ein sich öffnendes Oberlicht, welches bei konventionellen Schalenbauten nur selten zu finden ist. Dieses innovative Holzbausystem überspannt eine Grundfläche von 200m² und besteht aus 127 unterschiedlichen Hohlkassetten, die über Kreuzverschraubungen gefügt werden. Im montierten Zustand wirkt die Holzschale durch ihre gekrümmte Geometrie als formaktives Flächentragwerk, das eine stützenfreie Spannweite von 16 Metern bei einem Gewicht von nur 27 kg/m² Schalenfläche erreicht. Das Bauprinzip sieht vor, dass die gesamte Baustruktur als solche wiederverwendbar ist, aber auch in ihren baulichen Bestandteilen sortenrein trennbar bleibt.
Gemeinsam mit der statisch günstigen Schalenform zeigen gerade die Hohlkassetten wie auch im Holzbau neue Ansätze zur Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit durch den integrativen Einsatz digitaler Technologien verfolgt werden können. Die Hohlkassetten bestehen aus einer äußeren und inneren Decklage aus Dreischichtplatten sowie umlaufenden Randbalken aus Brettschichtholz, welche als Module zusammengesetzt werden. Der Mehraufwand in Planung und Ausführung, der mit dieser lastangepassten und geometrisch ausdifferenzierten Konstruktion einhergeht und diese normalerweise unwirtschaftlich werden lässt, kann durch integrative computerbasierte Planungsmethoden, robotische Fertigung und automatisierte Montage kompensiert werden, was zu einer erheblichen Reduktion des Ressourcenverbrauchs und des ökologischen Fußabdrucks führt. So zeigt eine ausführliche Lebenszyklusanalyse (LCA gemäß ISO 14040-14044 and EN15804), dass im Vergleich zu einer herkömmlichen Holzbaukonstruktion der Materialaufwand um 50% und das Erderwärmungspotenzial (GWP) um 63% geringer ausfällt.
Bioinspirierter wetterresponsive Fassaden und Komfortstrategie
Da Gebäude aufgrund des üblicherweise hohen Energiebedarfs für die Aufrechterhaltung des Innenraumkomforts einen erheblichen Anteil an den globalen Kohlenstoffemissionen haben, ist die Reduzierung der für das Heizen, Kühlen und Belüften erforderlichen Energie von hoher Bedeutung.
Die Komfortstrategie der livMatS Biomimetic Shell resultiert aus einer in die Planung integrierte digitale Modellierung vielschichtiger Einflussfaktoren, um mit möglichst minimaler technischer Ausstattung und Betriebsenergie auszukommen. Der Standort und die Ausrichtung des Gebäudes auf dem Grundstück wurden so gewählt, dass die umliegenden Gebäude an Wintertagen wenig bis gar keinen Schatten auf das Gebäude werfen. So können die solaren Gewinne durch das großflächige, nach Süden ausgerichtet Oberlicht genutzt werden. Die Holzschale selbst ist mit Holzweichfaserdämmung ausgestatteten. Eine thermisch aktivierte Bodenplatte aus Recyclingbeton, die mit niedrigen Vorlauftemperaturen aus lokaler Geothermie arbeitet, stellt in den Wintermonaten einen thermischen Innenraumkomfort sicher. Zugleich werden im Sommer hohe Wärmelasten durch solare Einträge vermieden.
Ein wetterresponsives Beschattungssystem am Oberlicht reguliert das Gebäudeklima, indem es das Gebäudeinnere im Sommer vor hohen Wärmelasten abschirmt, während es im Winter solare Gewinne zulässt. Die passive Anpassung dieses „Solar Gate“ basiert auf einer langjährigen Zusammenarbeit der Universitäten Stuttgart und Freiburg zur Erforschung des biomimetischen Prinzips des feuchtigkeitsgesteuerten Öffnens und Schließens von Pflanzenzapfen, das durch die hygroskopische Eigenschaft des Materials und dessen anisotroper Struktur ausgelöst wird.
Die integrierte Entwicklung von biobasierten, hygroskopischen Materialien und auf biomimetischen Prinzipien beruhenden, additiven Fertigungsprozessen ermöglicht es, die Materialstruktur der Verschattungselement so auszubilden, dass sich diese in Reaktion auf die Veränderungen der täglichen und jahreszeitlichen Wetterzyklen von selbst Ihre Form zur Regulierung des Innenklimas anpassen. Die 424 selbstformenden Beschattungselemente bestehen aus biobasierten Materialien und befinden sich in einem 10 m² großen Kastenfenster am Oberlicht. Sie wurden im 4D-Druckverfahren unter Berücksichtigung der Umwelt- und Standortbedingungen so programmiert, dass sie ganzjährig einen funktionalen Sonnenschutz bieten und zugleich solare Einträge ermöglichen, ohne dass dafür irgendeine Betriebsenergie benötigt wird. Zusammen schafft die wetterresponsive Fassade des Solar Gate, die hochgedämmte Gebäudehülle und die aktivierte Bodenplatte einen ganzjährig thermisch komfortablen Raum, ohne das weitere technische Gebäudeausstattung erforderlich ist.
Integrative computerbasierte Planung und robotische Vorfertigung
Das materialeffiziente Prinzip der Hohlkassette kam bereits im BUGA Holzpavillon Heilbronn 2019 als temporäres, offenes Bauwerk zur Anwendung und wurde hier für ein dauerhaftes, geschlossenes Gebäude mit ganzjähriger Nutzung weiterentwickelt. Ebenso wurde die Holzbauweise dahingehend optimiert, dass nachhaltigere Holzwerkstoffe genutzt und die Bauteilgrößen so angepasst wurden, dass bei der robotischen Herstellung so wenig Verschnitt wie möglich erzeugt wird. Der Grundgedanke von ressourceneffizienten, maßgeschneiderten Bauteilen wurde bei der Integration von Akustikelementen, Beleuchtung, integrierter Dämmung, Fassadenanschlüssen und Grifflöchern für automatisierte Montage konsequent fortgesetzt. Der damit einhergehenden hohen Komplexität in den Bauteilgeometrien und -aufbauten konnte mit einer durchgängig digitalen Planung und Fertigung begegnet werden. Für den Produktionsprozess (LCA A1-A3) weist das Holhlkassettensystem dank des optimierten robotischen Fertigungsprozesses ein im Vergleich zu einem aus Brettsperrholz (BSP) gefertigten Massivkassettensystem ein um 35% reduziertes Erderwärmungspotenzial (GWP) auf.
Das Herzstück der Vorfertigung ist eine neuentwickelte, transportable 7-Achs-Roboterplattform, die eine nahtlose Integration in den Werkhallen des Industriepartners müllerbaustein HolzBauWerke GmbH innerhalb weniger Stunden zuließ. Die 12m lange Robotereinheit ermöglichte die gleichzeitige Fertigung von vier Bauteilen mit Längen bis zu 3,5 Metern. Die individuellen Hohlkassetten wurden vom Schwerlastroboter aus einzelnen, digital vorformatierten Holzteilen gefügt, geklebt und in einem weiteren Schritt gefräst, gebohrt und schließlich zeiteffizient und mit einer Passgenauigkeit im Submillimeterbereich mittels Sägeblatts abgebunden. So konnte die robotische Fertigungszeit im Vergleich zum BUGA Pavillon um 75% reduziert werden. In die digitale Fertigung der Hohlkassetten wurden manuelle Teilmontageschritte von Sonderbauteilen wie Leuchtmitteln und Akustikelementen durch Augmented Reality direkt integriert. Diese Form der Mensch-Maschine Interaktion im Fabrikationsprozess, in dem unterschiedliche Akteure in einer gemeinsamen digital gestützten Prozesskette kooperieren können und Aufgaben zielgerichtet verteilt werden, ermöglicht eine effektive, digital-handwerkliche Herstellung komplexer Bauteile mit einem hohen Maß an Präzision.
Automatisierte Montage für ein cyber-physikalisches Bauen
Segmentierte Holzleichtbaukonstruktionen eignen sich aufgrund der hohen Präzision in der Vorfertigung und des geringen Bauteilgewicht für eine automatisierte Montage vor Ort, die im Rahmen dieses Projekts anhand von mehreren Schalensegmenten erstmals in einer realen Baustellensituation durchgeführt wurden. Hierfür wurden zwei cyber-physikalische Montageplattformen mit End-Effektoren entwickelt, die als automatisiertes Montage-Konzept vom digitalen Zwilling bis zu praktischer Einbindung in den Bauablauf untersucht wurden.
Das Montageprinzip besteht aus einem automatisierbaren Spinnenkran, der mit einem Vakuumgreifer Bauteile aufnimmt, sie automatisch an der entsprechenden Einbauposition platziert und in Position hält, bis diese ebenfalls automatisch verschraubt werden. Hierfür fährt ein zweiter, mit einem neuartigen Schraubeffektor ausgestatteter Spinnenkran die zu verschraubenden Kanten automatisiert an und bringt alle Schrauben ein. Für die wichtige Lokalisierung und Präzision der Bauroboter wurde ein automatisiertes Echtzeit-Tachymeter Netz bestehend aus vier Tachymetern entwickelt, wovon jeweils zwei Tachymeter die Position eines Bauroboters bestimmen.
Um bei komplexen Schalenbauwerken eine reibungslose Montage gewährleisten zu können, ist die Qualitätssicherung von größter Bedeutung. Ziel war es Hohlkassetten durch die Fertigungsschritte zu begleiten und so mögliche Änderungen der Geometrie feststellen zu können. Dafür wurde mittels eines terrestrischen Laserscanners ein digitales Abbild ausgewählter Kassetten erzeugt, welches dann mit der Soll-Geometrie aus der Planung verglichen werden konnte. Diese Messungen wurden sowohl nach der Fertigung, unmittelbar vor der Montage auf der Baustelle, sowie im eingebauten Zustand durchgeführt. Um eine abschließende geometrische Qualitätssicherung durchführen zu können wurde außerdem eine Aufnahme der fertigen Schale erstellt, um die Geometrie final zu evaluieren.
PROJEKT PARTNERS
Cluster of Excellence IntCDC – Integrative Computational Design and Construction for Architecture, University of Stuttgart.
ICD Institute for Computational Design and Construction
Prof. Achim Menges, Felix Amtsberg, Monika Göbel, Hans Jakob Wagner, Laura Kiesewetter, Nils Opgenorth, Christoph Schlopschnat, Tim Stark, Simon Treml, Xiliu Yang (Biomimetic Shell); Dylan Wood, Tiffany Cheng, Ekin Sila Sahin, Yasaman Tahouni (Solar Gate)
ITKE Institute for Building Structures and Structural Design
Prof. Dr. Jan Knippers, Simon Bechert
Cluster of Excellence LivMatS – Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems, Albert-Ludwigs-Universitat Freiburg
Prof. Dr. Jürgen Ruhe, Prof. Dr. Thomas Speck, Prof. Dr. Anna Fischer
Müllerblaustein HolzBauWerke GmbH, Blaustein
Jochen Friedel, Johannes Groner, Daniel Gold
FORSCHUNGSPARTNER:
Cluster of Excellence IntCDC – Integrative Computational Design and Construction for Architecture, University of Stuttgart.
ISYS Institute for System Dynamics
Prof. Dr. Oliver Sawodny, Andreas Gienger, Anja Lauer, Sergej Klassen
IIGS Institute for Engineering Geodesy
Prof. Dr. Volker Schwieger, Sahar Abolhasani, Laura Balangé
ICD Architectural Computing, Institute for Computational Design and Construction
Prof. Dr. Thomas Wortmann, Lior Skoury, Max Zorn
IABP Institute for Acoustics and Building Physics
Prof. Dr. Philip Leistner, Roberta di Bari, Rafael Horn
IntCDC Large Scale Construction Laboratory
Dennis Bartl, Sebastian Esser, Sven Hänzka, Hendrik Köhler
WEITERE FACHPLANUNG:
erdrich wodtke Planungsgesellschaft mbh
Christian Erdrich
Transsolar Klima Engineering GmbH
Prof. Dr. Thomas Auer, Christian Frenzel
Bauphysik 5
Joachim Seyfried
BEC GmbH
Matthias Buck
Belzner Holmes Light-Design
Thomas Hollubarsch
GENEHMIGUNGSVERFAHREN:
MPA University of Stuttgart
Dr. Simon Aicher
WEITERE AUSFÜRHUNG
Geoconsult Ruppenthal
Vermessungsbüro Nutto
IB Becherer
Klitzke ELT-Plan
Prof. Dr.-Ing. Heinrich Bechert + Partner
FW Glashaus Metallbau GmbH & Co. KG
Moser GmbH & Co. KG
Lösch GmbH & Co. KG Lightning protection construction
Parquet Studio Ganter GmbH & Co. KG
Elektro Mutter GmbH
Rees Sanitary and heating installations
Jakober GmbH
Kiefer & Sohn GmbH
Dirk Pesec
PROJEKTUNTERSTÜTZUNG
DFG German Research Foundation
Carlisle Construction Materials GmbH
HECO-Schrauben GmbH & Co. KG
Henkel AG & Co. KGaA
Puren GmbH
Raimund-Beck KG